Ist es einfach nur das beginnende Frühjahr, das mich müde macht? Oder macht mich Social Media müde? Und was läuft da gerade eigentlich schief, dass ich zwischendurch immer wieder eine so große Lust aufs Abschalten von Social Media habe? Versuch einer Selbstanalyse.


[Dieser Artikel liegt seit etwa 2019 im Entwurfs-Ordner dieses Blogs und wurde nicht publiziert. Aber die Zeiten haben sich einerseits mit dem Aufkommen von dezentralen sozialen Netzwerken geändert und irgendwie auch nicht, darum passt der Artikel auch jetzt noch.]

Schon seit Monaten bahnt es sich immer heftiger an. Ich bin Social Media leid. Um es genauer zu sagen: mich stören einige Dinge an sozialen Medien so sehr, dass ich nicht umhin komme eine Müdigkeit zu empfinden, eine Erschöpfung, die mich dazu bringt zu sagen: ich schalte das jetzt alles ab. Ich empfinde einen Widerstand die Apps zu öffnen. Manchmal „bestrafe“ ich die Apps mit Ignoranz und entziehe ihnen die Aufmerksamkeit, von der sie eh schon sehr viel haben möchten.

Natürlich geht das nicht einfach so: Abschalten! Löschen! Ich habe mich entschieden eine Agentur zu gründen, die genau diese sozialen Medien zum Kernthema gemacht hat: Bonn.digital ist eine Social-Media-Agentur, wir leben von Facebook, Twitter, Instagram und YouTube. Wir erstellen dort Content für und mit unseren Kunden, wir schalten Werbung und überlegen uns, wie wir die Ziele des Kunden strategisch zusammenbringen mit den Bedürfnissen seiner Interaktion- und Zielgruppen. Abschalten, nur darüber nachdenken oder es gar aufzuschreiben, wäre das nicht ein wirtschaftliches Eigentor, geschäftsschädigend?

Ich habe eine Verantwortung für mich, meine Familie, ich habe Verantwortung für unser Team, ich habe Verantwortung für unsere Kunden, die uns bezahlen das richtige zu tun. Wenn ich lapidar schreibe, Social Media nervt mich, ich schalte das einfach ab, dann hat das Konsequenzen. Also tue ich es das natürlich nicht ohne mich genau zu fragen, warum ist dieses Gefühl da. Was stört mich eigentlich so? Und wie kann es besser werden? Denn soviel sei verraten: Ich will Social Media nicht abschalten, sondern all das, was mir Social Media vermiest, denn eigentlich mag ich Social Media sehr.

Meine Kontakte sind meine Kontakte. Der ewige Kampf um den Schutz der Daten

Wer kann dieses Datum nicht vorbeten: Seit dem 28. Mai 2018 wurde die digitale Welt mit der „DSGVO“, die Datenschutzgrundverordnung eine andere. Ich bekam, wie vermutlich die meisten, hunderte E-Mails und war oft überrascht, wer alles Daten von mir verarbeitet, mit oder ohne Einwilligung.

Facebook hüpft seitdem von Skandal zu Skandal und macht trotzdem immer mehr Werbemillionen. Ein kurzes „Mea culpa“ weiter geht’s. Besonders aufgestossen ist mir, dass es aber auch einige Unternehmen und Agenturen gibt, die es mit Datenschutz nicht so genau nehmen und Facebook ihre gesamten Kundendaten übergeben haben, um mir gezielt Werbung zu unterbreiten, natürlich ohne meine Einwilligung. Aber dank der erforderlichen Transparenz kann man mittlerweile rausbekommen, wer alles mit meinen Kundendaten meint die Zitrone etwas mehr auspressen zu müssen, als es erlaubt ist.

Aber was mich wirklich nervt, wirklich abgrundtief nervt, dass ist die ewige Bettelei, ja quasi Nötigung in jeder dämlichen App meine gesamtes Adressbuch inkl. aller Angaben hochzuladen, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, dass ich alle Kontakte um Einwilligung gebeten hätte. Ich schaue Euch alle an, Instagram, Facebook, Twitter, WhatsApp, Xing, wie ihr auch heißt. Nicht nur meinen Ort wollt ihr tracken, sondern auch gleich meinen gesamten sozialen Graphen. Natürlich nur um den Service zu verbessern!!! #Ironie

Klar, hier muss man wieder trennen zwischen privaten Kontakten und Firmenkontakten. Aber es gibt kaum komfortable Möglichkeiten diese Daten sauber zu trennen beziehungsweise den Apps nur Zugriff auf einen Teil der Daten zu geben. Ich kämpfe mit Mobile Device Management Einstellungen und Apps darum, und wann immer es geht, untersage ich die Kontakte-Verscherbelei. Und dann sagt WhatsApp: tja, ohne dein Adressbuch kann ich leider nichts machen (obschon es tausende andere Messenger gibt, denen auch die Telefonnummer genügt).

Kurzum: Lasst die Finger von meinen Kontakten.

Notifications. Das Betteln um Aufmerksamkeit.

Zuletzt las ich, dass es jetzt ca. 10 Jahre Notifications gibt. Eigentlich sehr praktisch um eine Übersicht zu bekommen, was gerade wichtig ist. Aber hat jemand schon mal versucht alle Benachrichtigungen eingeschaltet zu lassen? Wie können Menschen noch ein Leben führen?

Mein braucht kein Psychologie-Studium um zu verstehen, was da schief läuft. Die Geschäftsmodelle der meisten Sozialen Medien basieren auf Werbung. Wenn das Social Network mehr Werbung ausspielen kann, verdient es mehr Geld. Die User gucken mehr Werbung, wenn sie länger und häufiger die App starten und auf ihren Bildschirm starren. Und das erreicht man, indem man die User konditioniert. Genau: Das ist das, was dem Hund passiert, wenn er mit dem Sabbern anfängt, weil ein Glöckchen klingelt. #Ping „Sonst gab es doch auch was zu fressen, wenn es klingelt, dann sabber ich vorsichtshalber schon mal los. Und so sitzen wir alle „sabbernd“ vor unseren Endgeräten, ohne es zu merken, wie wir jeden Tag auf hunderte Arten und Weisen trickreich konditioniert werden. SCHAU MICH AN, schreien die Apps mir jeden Tag entgegen. Und da ich mittlerweile fast alle Notifications abschalte, bei denen ich erkenne, dass sie konditionieren wollen, statt mich zu informieren, schalte ich sie ab, wo immer es geht.

Und dann kommt Facebook um die Ecke und erfindet eine Reihe neuer Notification, die man nicht einzeln abschalten kann. 💣

Natürlich will Facebook nicht nur vor Geräten sabbernde User haben, die möglichst viel Werbung gucken um den Gewinn zu steigern. Nein: Seit letztem Jahr gibt es ein neues Mantra, dass da heißt: „Time well spent“. Ich übersetze das mal kurz: Du sollst nicht nur sabbern, du sollst auch glauben, die Social-Media-Snacks, die du serviert kriegst, seien ein Fünf-Sterne-Menü. Und so verpufft Lebenszeit von Milliarden Menschen im Aktienwert von Facebook.

Und was ist die Lösung? Die harte Tour heißt „Zero Notifications“, einfach alles abschalten. Dadurch gewinnt man Autonomie, denn man entscheidet einfach selbst, wann man seine Mails checkt, guckt einfach einmal täglich bei Facebook rein (wer mag stellt sich dafür eine eigene Erinnerung ein) und schaltet dann wieder ab, wenn man genug hat. Und ansonsten hat man die Wahl, ob man lieber Lebenszeit verliert, indem man unnötige Notifcations sieht oder darum kämpft diese unnötigen Notifications einzeln abzuschalten.

Filtern gegen den Algorithmus

Künstliche Intelligenz. Das suggeriert ja, der User ist dumm und der Computer oder das soziale Netzwerk muss da ein bisschen nachhelfen. So eine chronologische Ordnung einer Timeline, dass ist ja was ganz dummes. Also muss da ein Algorithmus helfen, vielleicht sogar eine sogenannte künstliche Intelligenz, die erkennt, was ich mag und was ich nicht mag. Und deswegen bringt sie meine ganze Timeline durcheinander, zeigt mir nur noch das, wo alle Leute durchdrehen und liken, kommentieren und teilen, aus welchen Gründen auch immer. Und dann ist Trump Präsident und keiner weiß wie das geschehen konnte.* (*Okay, das ist jetzt weit hergegriffen, aber die Algorithmen bevorzugen schon sehr seltsame Sachen, da filtere ich lieber weiter von Hand).

Nicht weniger bekannt ist der Effekt bei YouTube, dass man sich vielleicht ein Tutorial-Video anschaut, wie haue ich einen Nagel in die Wand und zack, sieht man sich drei Stunden lang Hochhäuser die gesprengt werden und die extremsten Piercings der Welt an. Aber hey: Time well spent!

Deswegen hat Facebook ja auch noch mal nachjustieren müssen, als in der künstlich intelligent sortierten Timeline plötzlich keine Freunde mehr auftauchten und sich mancher User fragte, warum man das ganze noch „soziales“ Netzwerk nennt. Also wurde die Reichweite der Seiten eingeschränkt (ja, dann zahlt halt für die Werbung!), nachdem sie angefixt waren und zack feddisch: Goldener Käfig.

Fragt man mal Menschen jüngeren Alters merkt man: Die sind dieses Facebook-Game schon leid und versuchen auszuweichen, z.B. zu Instagram (Facebook), WhatsApp (Facebook) oder Snapchat (konnte Facebook leider nicht kaufen, deswegen wird es kaputt kopiert). Ihr merkt, Facebook ist meistens einen Tik schneller. Und dann kam TikTok (a.k.a. Musical.ly) und jetzt wird es lustig, denn TikTok kennt keine Grenzen und erkennt die Bedürfnisse seiner User besser als alle anderen. Stunden auf TikTok verbraucht, selbst TikTok-Influencer lassen die Finger von der Timeline, weil sie sonst keine Zeit mehr für die Content-Produktion haben.

Zurück zum Punkt: Ich möchte einfach eine chronologische Timeline haben, oder zumindest eine Option eine chronologische Timeline wieder herzustellen. Bei Twitter gibt es mittlerweile eine Einstellung dafür, nachdem es einen Aufschrei der Heavy User gab. Ansonsten wehre ich mich, indem ich Drittanbieter-Apps nutze und wenn möglich RSS-Feeds nutze, um Dienste zu abonnieren und die Kontrolle über die Filterung zu behalten.

Features, die niemand braucht, Änderungen als Selbstzweck

Auch hier ist Facebook das überladene Paradebeispiel. Jeden Tag gibt es neue Features, neue Einstellungen, neue Optionen und ein neues Design. Tausende Entwickler sitzen vermutlich jeden Tag vor Ihren Bildschirmen und fragen sich, was kann ich als nächstes einbauen, damit ich weiter beschäftigt bleibe.

Man kann sich ja einfach mal einen Screenshot anschauen, wenn man bei Facebook einfach mal so einen Post machen möchte. Mein Gott. Ich will einfach sagen: „Hallo, hier bin ich!“, Foto, fertig? Bisher war Instagram genau das, aber auch da geht es so langsam los, dass immer mehr neue Features reinkommen, bis das Teil nur noch ein Elefant im Porzellanladen ist.

Vielleicht sollten die Netzwerke mindestens so viele Leute für die Entfernung von unnützen Features einstellen, wie für den Einbau neuer Features?

In gewisser Weise hat OpenSource-Software aufgrund der knappen Ressourcen da oft einen Vorteil. Aber auch da ist die User-Orientierung nicht immer das Ziel des Entwicklers. Aber zumindest besteht die Chance dort.

Facebooks Angst vor der Konkurrenz: Snapchat kopieren

Kaum hat man Spaß an Snapchat gewonnen, will Facebook es kaufen, Snapchat gibt Facebook einen Korb und zack: Facebook kopiert Snapchat in alles rein, was nicht bei 3 auf den Bäumen ist. Ich muss jetzt also jeden Tag erstmal 7 Orte auf neue Snaps/Storys checken: Facebook, Facebook Pages, Facebook Messenger, Instagram Story, WhatsApp und Snapchat. Ich habs mal versucht, aber an dem Tag habe ich dann auch nichts anderes mehr gemacht.

Aus der noch relativ einfachen Entscheidung, oh, könnte diese Idee in eine Story passen kam die Frage hinzu: in welches Netzwerk poste ich jetzt diese Story? Alle? Nur 3 von 7?

Also poste ich lieber nicht, weil ich mich nicht entscheiden möchte. Schade, um die Story.

Der Feind: die besseren Drittanbieter-Apps

Twitter war ja mal eine meiner Lieblingsnetze. Ich war nicht einer der ersten, aber seitdem ich dabei bin, habe ich 43.700 Tweets abgeschickt, bis zum Schreiben dieser Zeile. Twitter habe ich vorrangig zur lokalen Vernetzung genutzt, weil ich spannend fand was in Echtzeit um mich herum passiert.

Ganz am Anfang konnte man wohl sogar noch per SMS Tweets losschicken. Und eigentlich schon immer war die Original-Twitter-App nicht zu gebrauchen, weder für den normalen User noch für den Heavy-User mit mehreren Accounts. Und eigentlich schon immer war Tweetbot einer der besten Drittanbieter-Apps für iOS, von der es so viele verschiedene wie Sand am Meer gab. Jede hatte eigene Stärken und Schwächen, aber durch die Vielfalt konnte jeder eine gute App finden.

Aber mit den Jahren verlor Twitter das Interesse an den Drittanbieter-Apps. Natürlich halfen diese Twitter groß zu machen, weil sonst niemand durch die App durchgestiegen wäre. Aber als Twitter groß war und Geld verdienen wollte, so wie Facebook durch Werbung, nur ohne den Datenpool aus den Profilen der User, waren die Drittanbieter-Apps plötzlich ein Dorn im Auge. Dort konnte Werbung nicht angezeigt und ausgesteuert werden, wie Twitter das wollte. Also wurden die Schnittstellen immer weiter eingeschränkt oder Mondpreise für deren Nutzung von Twitter aufgerufen. Natürlich gab es dann mal hier und da einen kleinen Aufschrei, aber mittlerweile ist die Roadmap wohl allen klar. Drittanbieter-Apps müssen weichen und Twitter entwickelt selbst an neuen Apps (TWTR ist wohl die aktuelle Beta-Version einer neuen App).

Wo ist das Problem? Das Geschäftsmodell diktiert, wie die Nutzer die Inhalte auf der Plattform zu konsumieren haben. Was ist die Lösung? Plattformen nutzen, die OpenSource sind, so dass eigentlich keine Wahl besteht, außer die richtigen Schnittstellen anzubieten, nach denen Bedarf besteht. Bei Mastodon gibt es keine Diskussion darüber, ob es RSS-Feeds gibt, nur noch die Frage welche Feeds machen Sinn.

Klar, APIs bedeuten auch immer, dass Dritte diese Daten massenhaft rausziehen können, damit die Inhalte kopieren, analysieren, eine KI damit füttern oder sonst ein Schindluder damit treiben. Da müssen wir noch sehen, ob die OpenSource-Modelle es schaffen, die Daten besser zu schützen, als die Firmen mit Geschäftsmodellen, wo das Horden dieser Daten als Vorteil und die Daten selbst als zu schützendes (oder geegn Geld zu verkaufendes) Geschäftsgeheimnis betrachtet werden.

Werbung als Geschäftsmodell

Werbung an sich: okay. Dafür Schattenprofile aller Menschen quer durchs Internet anlegen und wie wild Daten sammeln: nicht okay.

Aber wenn sich alles um Werbefinanzierung dreht, dann ist der User nicht mehr der zahlende Kunde, sondern der Werbetreibende und alles andere wird darauf optimiert, mehr Geld zu verdienen, es sind halt Aktienkonzerne. Die Nebenwirkungen sind klar: es muss mehr Zeit im Netzwerk verbracht werden, damit mehr Werbung ausgespielt wird und mehr Geld mit Werbung verdient wird. Und damit die Werbung zielgerichtet ausgespielt werden kann, wird die DSGVO ignoriert und überall gesammelt, was gesammelt werden kann. Und ich glaube nicht an „Ich habe nichts zu verbergen“, sondern an „Ich bestimme, was mit meinen Daten passiert.“

Lösungen: AbBlocker: sehe ich nicht als Lösung, höchstens als letztes Mittel der Selbstverteidigung, weil Werbung ja eben auch momentan eines der wenigen Wege ist, für viele Webseiten Geld zu verdienen mit ihrer Arbeit. Aber ihr solltet jede Möglichkeit nutzen, Websiten und Content-Ersteller direkt zu unterstützen. Ich hoffe ja auf Liberapay, Steady oder andere Community-Finanzierungs-Tools.

Resümee

Abschalten ist natürlich eine Möglichkeit, die man in Betracht zu sollte, aber wirklich als allerletzte Maßnahme. Social Media hat die Welt verändert, schafft neue Möglichkeit für Teilhabe, Wissenstransfer und Innovation, all das will ich nicht verleugnen.

Umso mehr ist es wichtig, dass wir alle uns engagieren, die Unternehmen zu bewegen wieder mehr Social Media für die Nutzer zu machen und die Probleme abzuschalten. Gestalten statt Abschalten. In diesem Sinne verabschiede ich mich wie Peter lustig im TV und sage. Schaltet mal ab, denkt darüber nach und seid beim nächsten Mal wieder dabei.

Veröffentlicht von Sascha Foerster

Sascha Foerster ist Geschäftsführer der Bonn.digital GbR, Social-Media-Berater, Community Manager, Moderator für Barcamps und Speaker bei Digital-Events.

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